„Victoria“: Der beste deutsche Film seit zwei Jahrzehnten - WELT (2025)

Sebastian Schippers „Victoria“ ist der Film des Jahres: ohne jeglichen Schnitt durch eine Berliner Nacht, die keiner vergessen wird. So etwas hat es aus Deutschland zuletzt mit „Lola rennt“ gegeben.

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Der 11. Juni 2015, lässt sich ohne Übertreibung sagen, ist der neue 20. August 1998. Wie lange haben wir darauf gewartet. Vor 17 Jahren kam „Lola rennt“ ins Kino, heute startet „Victoria“. Dies ist die größtmögliche Bürde, die man einem deutschen Film auferlegen kann: ihn mit „Lola“ zu vergleichen.

Dem Film, der unser nach Fassbinder verschnarchtes Kino wieder aufweckte. Der Cineasten von New York bis Hongkong elektrisierte und Normalkinogänger von Paris bis Tokio. Der Berlin auf die internationale Kinolandkarte setzte. Der seinem Regisseur Tom Tykwer das Tor zu den Stars öffnete, von Tom Hanks bis Cate Blanchett. Der diskutiert und zitiert und imitiert und variiert und remakeisiert wurde.

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Laia Costa heulte, wie noch keine geflennt hat

Aber da muss Sebastian Schippers Film durch, und er kann das. Er besitzt die Kraft, diese Last zu schultern. Sebastian Schipper, das war der Dieb, der Franka Potente in „Lola“ ihr Fahrrad klaute. Seitdem hat er geschauspielert und drei Filme inszeniert, darunter den anrührenden „Absolute Giganten“, drei Jungs, ein Mädchen und eine Nacht in Hamburg. Wenn man so will, handelt „Victoria“ von vier Jungs, einer Frau und einer Nacht in Berlin. Aber welch Sprung nach vorn!

Der größte Luxus, den man sich heute beim Filmesehen leisten kann, besteht in absichtlichem Nichtwissen. Am besten wäre es, ahnungslos in „Victoria“ zu gehen und sich dann so was von umhauen zu lassen. Am Anfang wummert eine Disco auf uns ein, eine junge Frau tanzt in sich verloren, steckt ihre Haare fest, bestellt einen Schnaps an der Bar. Das ist Laia Costa aus Spanien, die bisher keiner kannte, die aber später noch Rotz und Wasser heulen wird, wie noch nie eine Schauspielerin auf Film geflennt hat.

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„Victoria“: Der beste deutsche Film seit zwei Jahrzehnten - WELT (1)

„Ist das gut da drinnen?“, fragt sie ein junger Mann. Das ist Frederick Lau, von dem wir schon ziemlich viel gehört haben: der schwule Nazi aus „Tod den Hippies! Es lebe der Punk!“, der Junge, der sich in „Die Welle“ erschießt, der dominante Zellengenosse in „Picco“. Lau, das ist Sprengpulver unter der Oberfläche, das auf den Funken wartet.

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Als Victoria den Club verlässt, trifft sie den jungen Mann wieder, er nennt sich „Sonne“ und stellt ihr drei Kumpels vor, „Boxer“, „Blinker“, „Fuß“. Es ist halb fünf Uhr morgens, und unsere Kinoerfahrung würde Victoria davon abraten, sich von dem Quartett abschleppen zu lassen. Aber irgendwie sind sie auch süß, wie sie rumalbern und flirten und in den Spätkauf schleichen, um dem weggedämmerten Besitzer ein paar Bier unter der Nase wegzuklauen; Victoria lässt beschwingt eine Packung Haselnusskerne mitgehen. Es riecht nach prekärem Existieren.

Der Vergleich mit „Außer Atem“ von Godard

Und nun konstruieren wir noch einen kühnen Vergleich mit einem anderen Film mit Handkamera, natürlichem Licht, ebenfalls dort gedreht, wo das Leben ist, nämlich auf der Straße. Auch Jean-Luc Godards „Außer Atem“ hatte den Kleinkriminellen, bei ihm Jean-Paul Belmondo, auch er die ausländische Touristin, bei ihm Jean Seberg. Die beiden verkörpern seitdem das ultimative Cool, in ihrem von Zigarettenschwaden und Existenzialismus geschwängerten französischen Abgesang auf amerikanische Kinoidole.

„Außer Atem“ war ein einziger großer Verstoß gegen die in Beton gegossenen Regeln des Atelierkinos. Godard verweigerte sich der Identifikation mit dem Helden, Bild und Ton sind nicht deckungsgleich, Personen „springen“ durch Schnitte im Raum. Ein halbes Jahrhundert später hat Hollywood diese Regeln alle wieder in Kraft und neue Konventionen oben draufgesetzt, die vom superrationalen Erzählen zum Beispiel und dem Stakkatoschnitt und den multiplen Perspektiven.

Die sind inzwischen derart Standard geworden wie einst die Goldenen Regeln der Studiofilmer. Es war an der Zeit, gegen diesen Gleichschritt erneut eine Rebellion anzuzetteln. Irgendwann – das wäre einer der Vorteile des vorwissenlosen Kinogehens – geht einem in „Victoria“ vielleicht auf, dass man noch gar keinen Schnitt gesehen hat. Vom Club auf die Straße in den Späti aufs Fahrrad in einen Fahrstuhl hoch aufs Dach über Berlin: kein Schnitt.

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Das wird so weitergehen, an insgesamt 22 Schauplätzen, und es wird in 140 Minuten keinen einzigen Schnitt zu sehen geben. Das haben schon ein paar andere probiert, Sokurows Eremitage-Film „Russian Ark“ und Iñárritus Oscar-Gewinner „Birdman“, aber beide mussten zwischendurch tricksen. „Victoria“ hingegen ist in einem Rutsch gedreht, in einem Rausch, am 27. April 2014 zwischen 4.30 und 7 Uhr in und um die Friedrichstraße.

Das hat es in der Filmgeschichte noch nicht gegeben. Konnte es auch nicht, vor der Erfindung digitaler Kameras. Schipper nutzt den technischen Fortschritt, wie „Star Wars“ und „Batman“ den technischen Fortschritt nutzen, aber diametral anders. Ihm geht es nicht um die Perfektionierung der Illusion, sondern um die Augmentierung von Realität.

Das moderne Kino und wir selbst dulden keine Lücken

Wie gestalten wir denn unser Leben? Doch möglichst so, dass keine Lücken entstehen. Wir warten auf einen Bus und füllen die Leerzeit mit dem Schicken von SMS. Der Bus kommt, wir steigen ein und füllen die erneut drohende Lücke während der Fahrt mit Email-Checken.

Exakt auf diese Weise funktioniert das moderne Kino. Alle drohenden Lücken und Längen werden radikal eliminiert, nur das absolut Essenzielle bleibt. 15 Schnitte pro Minute sind die Norm. Und nun „Victoria“: null Schnitte in 140 Minuten – und jede Minute wächst die Hypnose, vom Tändeln zum Laufen zum Rennen, vom Chill zur Konzentration zur Panik, vom Quatschmachen zum Rauben zum Sterben.

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„Victoria“ ist kein Experimentalfilm, sondern reinstes Genrekino: große Jungs, große Klappe, große Gefühle, große Gefahr. Denn es bleibt nicht so harmlos. „Fuß“ hat Geburtstag und besäuft sich und ist irgendwann ungeeignet für das, was das Quartett diese Nacht noch vorhat. Ob Victoria nicht für „Fuß“ den Wagen fahren will, fragt „Sonne“, und Victoria, eine der vielen Spanier, die in Berlin zwar einen Job, aber keinen Anschluss gefunden haben, macht einfach mit.

Wir stecken mittendrin, wie Kriegsreporter. Der heilige Mediengral der Gegenwart heißt Immersion, Eintauchen in eine virtuelle Realität, und 3D, Google-Brillen und 360-Grad-Kameras, alle streben dorthin. „Victoria“ jedoch verschafft uns nicht das maximale Eintauchen in einen Raum, sondern in eine Situation und deren Figuren.

Sturla Brandth Grøvlen, ein fabelhafter junger Norweger mit sagenhafter Kondition, ist mit seiner Kamera ständig an diesen Figuren, zwischen diesen Figuren, folgt ihnen im Schweiße seines Angesichts zweieinhalb Stunden lang und schwenkt und rennt und verändert den Focus. Es gibt keine Pause für ihn und für die Schauspieler, die eben nicht – wie sonst – Zehnsekundenhäppchen drehen und dann auf die nächste Großaufnahme warten.

Eine unglaubliche Herausforderung für Hollywood

Gewöhnliches Kino, das ist ein Teppich aus sekundenkurz hochgefahrenen Intensitätsflicken. „Victoria“ hingegen ist nahtlose Intensität von der ersten bis zur letzten Minute. Der One-Take-Film, die 140 Minuten dauernde Plansequenz, das klingt wie reiner Cineasten-Ehrgeiz. Doch eigentlich wirft Schipper dem Hollywood-Kino eine ungeheuerliche Herausforderung vor die Füße. Beide arbeiten sie mit derselben digitalen Technik, und doch trennen sich mit „Victoria“ die Wege radikal.

Der eine führt in vom Computer erzeugte Universen, wo menschliche Formen reine Manipuliermasse sind. Der andere Weg, und dank „Victoria“ wissen wir nun, dass es ihn gibt, nutzt die moderne Technik, um noch näher an den Menschen heran- und in den Menschen hineinzukommen.

Schippers Film enthält genug Wahnsinn für zehn Filme, jenen Wahnsinn, der den meisten deutschen Filmen abgeht. Er ist auch eine ungeheure Kraftanstrengung. Natürlich ist vorher wochenlang geprobt worden. Dreimal wurde der komplette Film gedreht, und nach Version eins und zwei hat Schipper gefeilt, Motivationen geändert und Figuren eliminiert. Permanent stand das Vorhaben am Rande des Scheiterns, aber vielleicht ist der Blick in den Abgrund Vorbedingung für Radikalität; Godard wurde von seinem Produzenten gezwungen, „Außer Atem“ um eine halbe Stunde (!) zu kürzen. Auch deshalb wurde daraus ein richtungsweisender Film.

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„Außer Atem“ war der Film für die 20- bis 30-Jährigen von damals, denen das Schnurstracks in den Nachkriegskonsum nichts gab; „Victoria“ ist der Film für die 20- bis 30-Jährigen von heute, die ihr Leben nicht der Selbstoptimierung weihen wollen.

Als solcher kann er nur in Berlin spielen, der Stadt, die Gentrifizierer und Hochglanzpolierer immer noch nicht in einen Abklatsch von London und New York umzuwandeln vermochten, Gott sei Dank, bisher. Dabei sieht man gar nicht viel von der Stadt, meist ist es dunkel, und die allbekannten Tore und Türme und Kuppeln finden nicht statt.

Trotzdem ist es ein Berlin-Film par excellence, kühl in der Annäherung, aber liebevoll in der Nähe, und die Kamera umschmeichelt alle fünfe – auch Franz Rogowski als „Boxer“, Burak Yiğit als „Blinker“ und Max Mauff als „Fuß“. Sie sind unverkünstelte Berliner Jungs mit mehr Schnauze als Biss, durchaus dem Leben zugewandt, obwohl das Leben sie nicht wirklich braucht.

In „Außer Atem“ wird einem Schriftsteller – gespielt von dem legendären Regisseur Jean-Pierre Melville – die Frage gestellt, ob man noch an die Liebe glauben könne, und er antwortet mit einer Gegenfrage: „Wenn nicht daran, woran denn sonst?“ Das hätte auch „Sonne“ sagen können, wäre er als Berliner nicht dagegen gefeit, so romantisch zu quatschen.

Keiner glaubt mehr an die Zukunft

Vor allem jedoch: „An etwas glauben“, das verlangt eine Vorstellung von der Zukunft, und die besitzt niemand in „Victoria“. Die Titelheldin weiß lediglich, dass sie morgens um sieben das Café öffnen muss, in dem sie für einen halben Mindestlohn schuftet, und die Jungs tänzeln und tändeln und trinken einzig für den Moment. Und alle zusammen sind später im Morgengrauen nur damit beschäftigt, die nächsten fünf Minuten zu überleben.

„Vor die Wahl zwischen dem Leiden und dem Nichts gestellt, entscheide ich mich für das Leiden“, sagt Jean Seberg in „Außer Atem“ und raucht noch eine. Vor der Wahl zwischen dem Funktionieren und dem Nichts, würde Laia Costa sagen, „entscheide ich mich für die Solidarität“. Das ist praktisch, tröstlich, schön. Aber Victoria sagt es nicht und lehnt alle ihr angebotenen Fluppen ab, denn Schippers Film philosophiert nicht, sondern handelt. Er ist eine extrem rare Mischung zwischen deutschem Milieu und amerikanischer Action; das eine geht ohne den Umweg der Reflexion in das andere über.

„Victoria“ ist ein großer Wurf. Es gibt keinen zweiten Film, der so deutsch und doch so international ist. Ziemlich viele Leute haben die nervenzerfetzendsten zweieinhalb Stunden ihres Lebens für ihn gegeben. Es ist ein Akt des Respekts, ihm zweieinhalb Stunden ungeteilter Aufmerksamkeit im Kino zu schenken. Als Belohnung verschlägt er einem den Atem.

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Author: Golda Nolan II

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